Drei Schritte: Hören der Lehre, Nachdenken, Meditieren

Ausschnitt aus einer Belehrung zur Meditation, Seminar Chiemsee, 27.09.2012


Damit die Praxis der Lehre des Buddha in unserem Geist auch richtig Wurzeln fassen kann, nähern wir uns ihr in einem dreifachen Schritt an: Wir hören die Lehre, wir überdenken sie und wir praktizieren sie.

Die Lehre hören bedeutet, mit voller Aufmerksamkeit bei den Erklärungen des Lehrers präsent zu sein. Während man die Lehren hört, ist es von großer Wichtigkeit, dass wir das mit einer offenen Geisteshaltung und einem offenen Herzen machen. Während wir die Lehre hören, sollten wir einfach zuhören, ohne sofort alles zu bewerten. Wir sollten ganz unvoreingenommen zuhören. Das ist das Wichtigste beim Hören der Lehre
Aber wenn es jetzt um das Überdenken der Lehre geht, setzen wir unseren kritischen Geist ein. Dann untersuchen wir das Gehörte ganz genau und überprüfen es. Wenn wir Zweifel über verschiedene Punkte haben sollten, die wir gehört haben, ist es unsere Aufgabe, nachzufragen und so lange weitere Belehrungen zu hören und darüber nachzudenken, bis alle Zweifel ausgeräumt sind.
Hier ist ein gefühlsmäßiger Anteil, ein Vertrauensanteil, und auch ein intellektueller Anteil dabei. Man braucht beides. Im Buddhismus ist man nicht von Anfang bis Ende nur gläubig, hört zu und nimmt alles an, was man vorgesetzt bekommt. Man hört unvoreingenommen zu, aber dann wird gnadenlos analysiert. Der Buddha selbst hat gesagt, dass man seiner Lehre nicht sofort Vertrauen schenken, sondern sie erst einmal gründlich überprüfen sollte. Es ist natürlich gut, wenn man der Lehre einen Vertrauensvorschuss gibt, so dass man sich überhaupt damit beschäftigt. Aber wenn man nur mit Vertrauen an die Lehre herangeht, wird man nie eine vollständige Sicherheit gewinnen, es bleiben immer unterschwellig restliche Zweifel.
Beim ersten Punkt hören wir also nur unvoreingenommen zu. Hier ist nicht der Moment, um mit Zweifeln an die Sache heran zu gehen. Der kritische Geist muss da noch etwas zurückstehen. Erst wenn man die ganze Lehre angehört hat, setzt man sich mit ihr kritisch auseinander. Man untersucht jeden einzelnen Punkt mit dem kritischen Verstand. Der kritische Verstand ist auf dieser Ebene auch „Prajna“, unterscheidende Weisheit. Man untersucht mit dem Verstand und nach logischen Prinzipien.
Wenn man das vielfach analysiert und untersucht hat, und wenn man zu der Einsicht gekommen ist, dass man das, was gelehrt wurde, verstanden hat und dass es im Einklang mit der Wirklichkeit ist, dann bekommen wir eine innere Gewissheit.
Erst mit dieser inneren Gewissheit können wir erfolgreich in den dritten Schritt, die Meditation gehen. Denn bei der Meditation geht es nicht mehr darum, weiter nachzudenken. Unsere Zweifel sollten bereits ausgeräumt sein, Zweifel gehören nur in die Phase des Nachdenkens. Bei dem ersten Schritt des Zuhörens stellen wir alle Zweifel zurück. Bei der Meditation müssen wir alle Zweifel hinter uns lassen, so dass wir zweifelsfrei in die direkte Erfahrung gehen können.
Warum sollte man unvoreingenommen, ohne den kritischen Geist zuhören? Weil man, wenn man sofort den kritischen Geist einsetzt, nicht mehr richtig zuhören kann, man kann die Lehre nicht in ihrer Ganzheit aufnehmen. Man nimmt also erst einmal passiv auf.
Beim zweiten Schritt ist der Zweifel unabdingbar. Da brauchen wir den forschenden und hinterfragenden Zweifel. Wenn wir den nicht haben, werden wir nie zum Kernpunkt des Dharma vordringen. Wir brauchen diese intellektuelle analytische Fähigkeit, um mit forschendem Geist den Dingen auf den Grund zu gehen. Denn letztlich wollen wir zu einem Verständnis kommen, das den Dharma in absolutem Einklang mit der Wirklichkeit sieht. Durch den forschenden Zweifel müssen wir hindurch gehen. Dadurch gewinnen wir Sicherheit.
In der Meditation geht es um die praktische Umsetzung des Gehörten und Durchdachten. Wir setzen die Dharma-Inhalte, die wir gelernt haben, praktisch um. Das können wir nur dann richtig machen, wenn wir das Gehörte zweifelsfrei verstanden haben. Wenn wir es dann umsetzen, müssen wir zweifelsfrei sein. Wenn wir in der Praxis immer noch unterschwellige Zweifel haben, weil wir sie nie richtig ausgeräumt haben durch intensives Nachdenken, wird unser ganzes Praxis-Leben immer von Zweifeln durchsetzt sein. In die Praxis sollen wir ohne Zweifel hineingehen, mit Wissen, Gewissheit und Sicherheit.

Was bedeutet ein „Retreat“?

Damit wir uns dem Dharma in diesem dreifachen Schritt auch in vernünftiger und systematischer Weise annähern können, grenzen uns jetzt eine Zeit lang von zu starken Einflüssen ab, wir begeben uns in ein „Retreat“.
Es gibt bei einem Retreat drei Abgrenzungs-Ebenen: eine äußere, eine innere und eine geheime.
Die äußere Abgrenzung legen wir dadurch fest, dass wir uns an einen Ort wie diesen hier begeben, der entfernt ist von der alltäglichen Geschäftigkeit. Ich hoffe, nachdem ihr euch in die physische Abgelegenheit dieses Ortes begeben habt, dass ihr auch eure Alltags-Beschäftigungen zuhause gelassen habt. Deswegen braucht ihr aber jetzt nicht in Panik verfallen, denn nach sechs Tagen könnt ihr eure ganzen Beschäftigungen wieder auf euch nehmen, wenn ihr meint, dass ihr darauf nicht verzichten wollt.
Vielleicht stellt ihr allerdings fest, dass ihr viele Dinge gar nicht braucht. Vielleicht stellt ihr fest, dass es auch viel einfacher geht und ihr fragt euch, ob ihr diese Einfachheit nicht in euer Alltagsleben mitnehmen sollt.
Innerhalb dieser äußeren Abgrenzungslinie setzen wir jetzt die innere Abgrenzung.
Das bedeutet, dass wir versuchen, in diesem Zeitraum der nächsten sechs Tage mit unserem Körper, mit unserer Stimme und mit unserem Geist nach besten Kräften die zehn unheilsamen Handlungen zu vermeiden.
Wir versuchen, eine ruhige, friedliche Geisteshaltung herzustellen, indem wir unseren subtilen Körper zur Ruhe kommen lassen. Das Vermeiden der unheilsamen Handlungen fällt unter die Rubrik „Disziplin“. Wenn wir versuchen, diese Disziplin einzuhalten, führt allein das schon zu einer Beruhigung unseres subtilen Körpers.
Auf dieser Basis gehen wir dann in die geheime Abgrenzung.
Da geht es nun darum, etwas zu erkennen. Was versuchen wir zu erkennen?
Wir versuchen, die Natur unseres Geistes zu erkennen, die auch die Natur aller Phänomene ist.
Das ist etwas, das jenseits von unserer Erwartungs- und Enttäuschungs-Haltung liegt. Es geht nicht darum, aus einem aufgewühlten, angstbesetzten Samsara zu fliehen und ein friedvolles Nirvana anzustreben. Hier geht es darum, jenseits unserer dualistischen Sichtweise der Erwartung eines friedvollen Nirvana und der Angst vor einem aufgewühlten Samsara zu kommen, und eine Sichtweise zu gewinnen, bei der Samsara und Nirvana den gleichen Geschmack haben. Das ist in der Erkenntnis der Buddhanatur möglich.
In der geheimen Abgrenzung praktizieren wir auch mit einem tiefen Verständnis der zwei Wirklichkeits- oder Wahrheitsebenen. Die relative oder konventionelle Wirklichkeitsebene ist eine verblendete Sichtweise. Die absolute oder faktische Wirklichkeitsebene ist eine unverblendete Sichtweise. Diese beiden Wirklichkeitsebenen gilt es zu synchronisieren in einer Erkenntnis, wo beide Ebenen eine untrennbare Einheit bilden.

Erst ein emotional gesunder Mensch werden - dann das „Erwachen“

In welcher Struktur bewegen wir uns?
Wir wollen den Dharma lernen im Rahmen des dreifachen Schritts von Hören, Nachdenken und Meditieren. Dafür legen wir eine dreifache Abgrenzung fest. Das Thema dieses Seminars ist letztlich die Erkenntnis der Natur unseres Geistes und dafür dient vor allem die dritte, die geheime Abgrenzung.
Wenn wir uns der Erkenntnis der Natur unseres Geistes nähern, reden wir über die absolute oder faktische Wirklichkeit, aber im Moment sind wir noch in der relativen oder konventionellen Wirklichkeit.
Diese relative Wirklichkeit hat wiederum eine zweifache Unterteilung und die muss man verstehen. Es gibt die verdrehte Version der relativen, konventionellen Wirklichkeit und das ist unser leidvoller Alltag, geplagt von Sorgen, Nöten und Krankheiten.
Wenn wir lernen, diese verdrehte konventionelle Wirklichkeit in eine vernünftige, saubere, reine konventionelle Wirklichkeit zu transformieren, dann heilen wir damit auch unseren subtilen Körper, wir werden zu emotional gesunden Menschen. Das ist zwar immer noch auf der konventionellen Ebene, aber wir haben das Konventionelle zur größtmöglichen Reinheit gebracht. Auf dieser Basis, der korrekten Version der konventionellen Ebene, können wir uns dann mühelos der absoluten Wirklichkeit nähern.
In meinem Verständnis gibt es da zwei Schritte. Im ersten Schritt geht es darum, ein emotional gesundes menschliches Wesen zu werden. Im zweiten Schritt geht es darum, über diese Gesundung noch hinaus zu gelangen, nämlich zu völligem Erwachen und Freiheit. Das ist das Wunderbare, was der Buddhismus uns anbieten kann.
Mit dem ersten Schritt können wir in dieser konventionellen Wirklichkeit, dieser Alltagswelt, leben als emotional gesunder Mensch, dessen Geist und subtiler Körper friedvoll und geheilt ist, und dessen Herz eine liebevolle, gütige Einstellung hat. Ein menschliches Wesen, das eine innere Stärke gefunden hat.
Wenn man das buddhistisch analysiert, hat dieses gesunde menschliche Wesen aber immer noch Anhaftungen. Wir sind immer noch in der konventionellen Wirklichkeit, wenngleich auf eine gesunde Weise. Wenn wir als ein Mensch mit solchen Qualitäten die Last des Alltags spüren, dann wissen wir, wie wir mit diesen Belastungen umgehen können, wir haben die Werkzeuge dafür. Vielleicht haben wir uns in der Beschäftigung mit unserer phänomenalen Wirklichkeit verloren und sind in Erwartung und Enttäuschung gefallen, aber am Ende des Tages wissen wir, wie wir die Energie wieder einfangen können und wie wir zu unserem gesunden Kern zurückfinden können. Wir haben eine innere Heimat. Zu wissen, dass ihr eine innere Heimat habt und wie ihr dahin zurückkehren könnt, gibt euch innere Stärke. Mit diesem Grundverständnis erlebst du jeden Schritt in deinem Leben mit einer viel tieferen Erfahrungsbreite.
Mit diesen Fähigkeiten lebst du gesund, aber du bist immer noch in Samsara. Du hast noch keine Faktoren in Gang gesetzt, um jenseits des Kreislaufs der Wiedergeburten zu gelangen. Du hast immer noch zwei starke “Ich“-Besetzungen, nämlich die grundlegende, abgrenzende Haltung „Ich bin das und das“, und dann die Überbetonung dieses „Ich“ im Positiven wie im Negativen, also Selbst-Überschätzung oder Selbst-Unterschätzung.
Vielleicht reden wir über den zweiten Schritt, wie wir aus Samsara herauskommen, erst morgen. Versuchen wir erst einmal, gesund in Samsara zurecht zu kommen. Ohne eine gesunde Einstellung in Samsara gefunden zu haben, ist der Erleuchtungsweg unmöglich.

(Transkript hgm) Alle Schülerinnen und Schüler von Tsoknyi Rinpoche, die bereits eine Seminarwoche mit Tsoknyi Rinpoche besucht haben, können das vollständige Transkript der 12 Belehrungen der ersten Seminarwoche 2012 (26.September – 2. Oktober 2012) gegen eine Spende von € 10,-- bis € 20,-- (je nach eigenem Vermögen) bestellen bei: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!