Aus dem Gewahrsein manifestieren sich viele positive Qualitäten

Ausschnitt aus einer Belehrung zur Natur des Geistes, Seminar Chiemsee, 1.10.2012

In der Praxis sollten wir zu dem kommen, was in der dritten Aussage von Garab Dorje gesagt wird: „Gewinne Sicherheit in der Befreiung.“ Darüber habe ich heute Morgen unterrichtet. Als Ausdruck dieser Sicherheit in der Befreiung werden sich sehr viele gute Qualitäten spontan manifestieren, Qualitäten, die nicht vom dualistischen Geist fabriziert wurden, die nicht meditativ hergestellt wurden.

Wir sprechen von den Qualitäten der Erkenntnis. Die Qualitäten der Gewahrseinspraxis stellen sich nicht sofort ein, nachdem man die Einführung in die Buddhanatur erhalten hat. Man muss erst sicherstellen, dass man authentisch die Natur des Geistes, das nackte Gewahrsein, erkannt hat. Dann gewöhnt man sich durch häufige Wiederholungen an diese Praxis. Das ist also etwas, was man nicht „er-meditiert“, sondern etwas, an das man sich gewöhnt, mit dem man sich vertraut macht bis zu dem Punkt, dass man eine gewisse Sicherheit in der befreienden Qualität, die sich in der natürlichen Kontinuität einstellt, gewonnen hat. Wenn sich da eine Stabilität eingestellt hat, dann zeigen sich die Qualitäten der Erkenntnis.
Ihr kennt die beiden Begriffe Rigpa und Marigpa, Gewahrsein und Nicht-Gewahrsein (letzteres wird meistens als „Unwissenheit“ übersetzt). Wenn man das Gewahrsein erkannt hat, ist man in der Natur des Geistes, in Rigpa. Wenn man das Gewahrsein nicht erkannt hat, ist man in Marigpa, in Unwissenheit, im dualistischen Geist.
Wenn wir das Gewahrsein, die Natur unseres Geistes erkannt haben und uns mit dieser Erkenntnis bis zu einem gewissen Grad vertraut gemacht haben, wenn wir uns an die Erkenntnis des nackten Gewahrseins immer wieder gewöhnt haben, dann stellt sie als eine Qualität des Erkennens Unterscheidende Weisheit ein. Wenn uns zum Beispiel dieses Jahr eine Formulierung in den Belehrungen unklar war, verstehen wir im nächsten Jahr diese Aussage, einen buddhistischen Kernbegriff oder eine Belehrung auf einer viel tiefgründigeren Ebene. Das sind „Aha!“-Erlebnisse. Diese finden spontan statt aus der Gewohntheit, aus der Vertrautheit mit dem nackten Gewahrsein.
Diese Weisheit, die zu solchen „Aha!“-Erlebnisse führt, ist nicht eine Prajna des dualistischen Geistes, sondern das ist Prajnaparamita, Transzendente Weisheit. Es ist die spontane Funktion, der spontane Ausdruck der Rigpa-Erkenntnis, was sich als „Aha!“-Erlebnis manifestiert. Man bekommt plötzlich ein neues, tieferes Verständnis, das man vorher nicht hatte.
Ihr kennt die Lehre von den zwei Wirklichkeiten, den zwei Wahrheitsebenen, die konventionelle und die absolute oder faktische Wahrheitsebene. Diese beiden bilden eine untrennbare Einheit. Das ist nicht so leicht zu verstehen. Wenn man sich nun mit der Erkenntnis des Gewahrseins vertraut gemacht hat, dann wird einem plötzlich diese untrennbare Einheit klar, man versteht die Dinge auf einer viel tieferen Ebene.
Vielleicht sitzt du eines Tages im Garten und ein Vogel fliegt an dir vorbei. Dieser kleine Umstand löst in dir eine Erkenntnis aus. Kraft der befreienden Qualität des Gewahrseins werden Praktizierende viele ähnliche „Aha!“-Erlebnisse haben, ausgelöst durch unscheinbare Umstände. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Rigpis funkta-Praxioniert. Manchmal denkt man über ein Problem den ganzen Tag nach. Dann sitzt du auf dem Sofa, bist entspannt und dann passiert irgendetwas. Aufgrund dieser kleinen Gegebenheit verstehst du es plötzlich. Dann schreibt man natürlich gleich eine ganze Doktorarbeit über dieses „großartige Erlebnis“, zum Beispiel „Was der Vogelflug bei mir auslöste“. Vögel fliegen den ganzen Tag. Aber plötzlich hat das etwas bei dir ausgelöst. Dann hältst du Vorträge darüber, wie Einsichten entstehen, wenn Vögel an einem vorbei fliegen. Dann schauen die Zuhörer den ganzen Tag nach den Vögeln, aber es entstehen keine Einsichten.
Für die Person, die die Einsicht hatte, war dieser Umstand etwas Besonderes, und zwar deswegen, weil sie bereits lange Zeit praktiziert hatte. Für andere Praktizierende geschieht so etwas im Supermarkt. Als mein Lehrer Adeu Rinpoche während der Kulturrevolution im chinesischen Konzentrationslager war, hat er nur unter äußerst schwierigen Umständen überlebt und dabei nie den Kontakt zur Praxis verloren. Dort hatte er sehr viele Einsichten. Er erzählte, als junger Rinpoche musste er große Mengen von Belehrungen und Texten auswendig lernen und verstand diese manchmal nicht. Wenn er solche Belehrungen oder Texte im Konzentrationslager leise rezitierte, wurden ihm plötzlich viele Bedeutungen klar. Das ist eine Prajna, die aus der Vertrautheit mit Rigpa kommt. Aus dieser Praxis entsteht auch ein hoher Grad von emotionaler Intelligenz.
Es entwickelt sich also kognitive und emotionale Einsicht. Wir brauchen beides. Die Panditas, die Gelehrten, haben das kognitive, intellektuelle Verständnis der Lehre bis zur Meisterschaft gebracht. Die Yogis dagegen verbringen ihre Zeit nicht damit, sie praktizieren und erreichen damit einen hohen Grad an emotionaler Intelligenz.

Wertschätzung und Vertrauen

Geht also den Weg der Gewahrseins-Praxis weiter. Die drei Aspekte der Befreiung werden sich einstellen und ihr werdet Sicherheit in der Fähigkeit gewinnen, alles zu befreien. Ihr verliert die Angst vor euch selbst und gewinnt eine größere Selbst-Akzeptanz. Das Leben wird für euch schön. Ihr stellt fest, dass diese Praxis von innen heraus euer Leben verändert. Ihr habt eine emotionale Erhobenheit. Man hat das Gefühl, der Dharma funktioniert.
Ein emotionales Vertrauen in die Praxis entsteht. Vertrauen ist auch eine emotionale Qualität. Das intellektuelle Vertrauen in den Dharma bringt ihr mit, deswegen seid ihr ja hier. Ihr versteht, dass es ein wunderbarer Weg ist. Aber jetzt in der Praxis dieses Befreiungs-Aspekts befreit sich etwas im Inneren von euch. Fantastisch.
Es findet eine Wertschätzung gegenüber dem Dharma statt, gegenüber dem eigenen Erleben, gegenüber dem Weg. Durch all das erfährt man eine emotionale Berührung. Die Wertschätzung bekommt eine emotionale Färbung. Das ist der Anfang von Vertrauen und Hingabe. Buddhistisches Vertrauen und Hingabe muss aus dieser Quelle kommen.
„Ich bin nicht mehr von meinen Gedanken und Gefühlen, meinen Kleshas, dominiert. Ich habe einen Ausstieg gefunden, wenn ich möchte. Und wenn ich in den Kleshas bleiben und leiden will, kann ich das auch. Ich habe Wahlmöglichkeiten.“ Das ist etwas Kostbares, fast etwas Heiliges. Alle Lebewesen wünschen sich diese Freiheit. Wir wünschen uns Unabhängigkeit, werden aber durch unsere Gedanken und Gefühle bestimmt.
Jetzt haben wir endlich ein kleines Fenster in die Freiheit gefunden. Selbst wenn das Haus brennt, weiß ich, wie ich durch dieses kleine Fenster ins Freie gelangen kann. Der Ausgang ist nicht verschlossen. Wir brauchen eine Praxis, durch die wir immer eine Türe zur Freiheit haben. Wenn wir diese Türe kennen, während wir im Haus leiden, wo es unerträglich stinkig und muffig ist, wissen wir, wie wir entkommen können.
Aber vielleicht ist diese stinkige, muffige Situation nützlich für uns, weil wir jemandem helfen. Wenn wir jemandem helfen wollen, der stinkt, müssen wir dessen Gestank ertragen können. Jetzt hast du keine Angst mehr vor dem Leiden. Du bleibst in der Situation, weil es notwendig ist für die leidende Person, aber wenn es zu gefährlich wird, weißt du, wie du rauskommen kannst.
Die Wertschätzung dieser Praxis, dieser Qualität ist emotional, und das ist eine sehr gesunde Empfindung. Aus dieser Wertschätzung entwickelt sich langsam Hingabe und Vertrauen. Du empfindest mehr und mehr Wertschätzung für den Dharma, für dein eigenes Verständnis, für deinen Lehrer und die ganze Übertragungslinie, für die Bodhisattvas und Buddhas.
Das alles entspringt der Gewahrseins-Praxis. Es funktioniert. Wenn die Befreiung für dich funktioniert, hast du ganz natürlich eine Wertschätzung von dieser Qualität des Gewahrseins. Das ist sehr heilsam für den subtilen Körper. Die Nadis, Pranas und Bindus öffnen sich.

Rigpa ist saftig

Rigpa ist keine trockene Angelegenheit, es ist sehr saftig. In Rigpa gibt es zwei Saftströme. Der eine saftige Aspekt ist Vertrauen und Hingabe, der andere ist Liebe und Mitgefühl.
Diese freudige Wertschätzung ergibt sich ganz natürlich aus deiner direkten Erfahrung der befreienden Qualität des Gewahrseins, ohne einen externen Stimulus, einfach aus der direkten Praxis-Erfahrung. Das hat einen verstärkenden Effekt auf deine Rigpa-Praxis, auf die natürliche Kontinuität deiner Gewahrseins-Erkenntnis. Wenn du zu dieser Wertschätzung der befreienden Qualität gelangt bist, dann bist du in der Rigpa-Praxis mit dieser Wertschätzung, mit dieser Hingabe und diesem Vertrauen. Das wirkt außerordentlich heilend. Du vertraust zutiefst.
Das ist nicht eine Gefühlsduselei, in der du romantisierst, sondern es ist ein direkter Ausdruck deiner Rigpa-Erfahrung. Du bist voll wach, klar, und du hast diese emotionale Saftigkeit.
Diese Art von Wertschätzung, von Hingabe, von Dankbarkeit ist in gewissem Sinn vergleichbar mit der ersten Liebe. Man verstand sich damals ohne Worte und ohne jeden Zweifel, voller Offenheit und Vertrauen. Das war eine sehr heilsame Phase. Jetzt ist es fast so, wie wenn man sich in die eigene Verwirklichung verliebt.
Diese besonderen Emotionen entfalten sich spontan in der natürlichen Kontinuität des Gewahrseins. Und wenn sie sich entfalten, geht die natürliche Kontinuität des Gewahrseins nicht verloren.
Wenn eine Emotion auftaucht und dabei das Gewahrsein verloren geht, ist das unsere normale Erfahrung von Hingabe, Vertrauen und Mitgefühl, wie wir sie aus dem dualistischen Geist kennen.
Man kann die emotionalen Rigpa-Entfaltungen verstärken, indem man beispielsweise zu den Meistern der Übertragungslinie betet, oder Vajra-Gesänge singt, über den eigenen Lehrer meditiert, oder man macht eine Praxis wie „Das Herbeirufen des Meisters aus der Ferne“. Auch schöne entsprechende Musik hilft, das Herz zu berühren und zu öffnen.
Aber im Gegensatz zum normalen Musik-Konsum ist das ein Musik-Konsum in der Erkenntnis des Gewahrseins. Das geht durch den gesamten subtilen Körper hindurch und heilt ihn. Da ist kein Greifen dabei und keine Klebrigkeit, weil kein Ich dabei ist. Nicht „mir“ geht es jetzt gut, sondern es ist einfach ein Gut-Gehen. Es findet einfach statt. Bewegt euch niemals vom natürlichen Gewahrsein weg. Das ist keine Fixierung, aber die Empfindung durchdringt den gesamten subtilen Körper. Der ganze subtile Körper ist in einer Stimmung der Hingabe. Normalerweise haben wir eher eine Angst-Grundstimmung im subtilen Körper, die verhindert, dass wir überhaupt irgendetwas oder irgendjemand vertrauen können.

(Transkript hgm) Alle Schülerinnen und Schüler von Tsoknyi Rinpoche, die bereits eine Seminarwoche mit Tsoknyi Rinpoche besucht haben, können das vollständige Transkript der 12 Belehrungen der ersten Seminarwoche 2012 (26.September – 2. Oktober 2012) gegen eine Spende von € 10,-- bis € 20,-- (je nach eigenem Vermögen) bestellen bei: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!