Bodhicitta. Bericht zu einem Seminar von Tsoknyi Rinpoche in Beatenberg, 3.-9. April 2011

Das Seminar „für Fortgeschrittene“, das Tsoknyi Rinpoche in Beatenberg/Schweiz im Anschluss an sein Einführungsseminar „Fingerzeig auf die Natur des Geistes“ anbot, führte direkt ins Herz der buddhistischen Lehren im Allgemeinen und im speziellen des Dzogchen. Wie Rinpoche erklärte, erblüht Bodhicitta auf der Basis der Einsicht in die Essenz unseres Geistes, weshalb er das Thema stets jenen vorstellt, die die Einführung schon erhalten haben. Doch der Begriff ‚Thema‘ trifft es nicht wirklich: Es geht um nichts weniger als – wie es der Titel des Seminars ausdrückte – die „Geisteshaltung des Erwachens“.

Zunächst bot Rinpoche einen Überblick über die Bodhicitta-Lehren und führte in die Unterscheidung zwischen relativem und absolutem Bodhicitta ein. Relatives (oder konventionelles) Bodhicitta wird in 2 Aspekte geschieden, in das Bodhicitta des Wünschens und jenem der Anwendung. Der erste Aspekt ist eine Haltung unseres Geistes, die wir einnehmen und durch die Übung in den „Vier Unermesslichen“ aufrecht zu halten versuchen: durch die Übung in unermesslicher Liebe, unermesslichem Mitgefühl, unermesslicher Freude und unermesslichem Gleichmut. „Unermesslichkeit“ meint das Bestreben, Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut möglichst vielen Wesen, ohne Unterschied angedeihen zu lassen. Der zweite Aspekt zielt auf unser Handeln ab: Hier geht es um die aktive Anwendung der Geisteshaltung von Bodhicitta durch die „Sechs Paramitas“ (Freigebigkeit, Disziplin, Geduld, Tatkraft, Versenkung und Weisheit). Schließlich wies Rinpoche auf die kostbaren Belehrungen des „Lojong“ hin, einer reichhaltigen Sammlung von täglich anwendbaren Punkten des Geistestrainings, die uns, richtig angewandt, allmählich zur Reife und zur absoluten Erkenntnis von Bodhicitta hinführen können.

Somit ist relatives Bodhicitta als Pfad, absolutes Bodhicitta als Frucht zu verstehen. Der Grund, die Essenz, unsere Buddhanatur ist stets gegenwärtig. Rinpoche erklärte, dass wir im Zuge unseres modernen Lebensstils oft einen Schutzschild aufbauen, der uns einerseits gegen Verletzungen abschirmt, uns aber auch von unserer natürlich vorhandenen Liebe trennt. Die Essenzliebe, so Rinpoche, ist ein „inhärentes Wohlsein“, ein „innerer Frieden“, sanft und spielerisch, bereit, auch andere zu lieben. Dieses Wohlsein haben wir alle in uns, doch müssen wir wieder lernen, es zu nähren, es wirklich lebendig werden zu lassen, denn es ist nicht nur heilsam für uns selbst, sondern auch die Basis von Mitgefühl und Liebe für andere. In der Entspannung, im Sitzen frei von Erwartungen, Sorgen und Ängsten, kann sich dieses Wohlsein einstellen und allmählich wachsen.

Rinpoche betonte die Wichtigkeit der konventionellen (oder relativen) Ebene, in der wir unsere kognitiven und emotionalen Fähigkeiten einsetzen: konventionelles Bodhicitta bringe unglaublichen Nutzen (siehe dazu auch Shantidevas berühmtes Werk „Bodhicharyavatara“). Indem wir uns in den „vier Unermesslichen“ üben und sie in Handlung und heilsames Verhalten umsetzen, vertreiben wir zugleich allzu starkes Anhaften an materielle Dinge und gehen gegen die Angst und Leere in uns vor. Rinpoches eigenes unermessliches Mitgefühl kam darin zum Ausdruck, dass er uns immer wieder ermutigte, bei uns selbst zu beginnen, unser eigenes Wohlsein sich ausbreiten zu lassen und unsere Verletzungen und Emotionen zu heilen. Nur so könnten wir in der richtigen Weise dem Leiden anderer Wesen begegnen. Rinpoche zeigte uns auch die Irrwege eines „ich-besetzten Wohlseins“, das nicht gestört werden will und negativen Emotionen wie Ärger Raum gibt.

Es war immer noch die erste Phase des Seminars: Rinpoche zeigte uns, wie wir mit Leid und Glück anderer Wesen umgehen können. Er erläuterte die drei Arten von Leiden (Leiden über Leiden, Leiden der Veränderung und alles durchdringendes Leiden), vermittelte die rechte Sicht auf das Wesen des Leidens, wies auf die in Zusammenhang stehende Ich-Besetzung und auf fremdgesteuertes Handeln hin; beide beruhen letztlich auf dem Trugschluss der „Eigenexistenz der Dinge“ und der „Eigenexistenz des Ichs“. Mit jedem Belehrungsabschnitt zeigte es sich mehr und mehr, wie vollständig die buddhistischen Lehren sind, wie sich etwa allein im Feld der „Vier Unermesslichen“ die gesamten Lehren spiegeln und wie klar und mitfühlend sie sich in all ihren Verzweigungen darstellen: Die Lehre der Prinzipien von Motivation und Widmung, die Lehre der „acht weltlichen Belangen“, der richtige Umgang mit Negativität, die Vorzüge innerer Einfachheit, die unterschiedlichen Haltungen im Helfen („Haltung des Königs, des Fährmanns und des Hirten“) – all dies und noch mehr fächerte Rinpoche in den ersten beiden Tagen auf und beantwortete die Fragen der Schüler zu diesen Themen. Die Lehren zum relativen Bodhicitta mündeten schließlich darin, dass Rinpoche uns vergegenwärtigte, in welcher Weise jede einzelne Praxissitzung die „sechs Paramitas“ enthält, so dass wir diese in unserer persönlichen Praxis wach halten und kultivieren können.

Am dritten Seminartag begann Rinpoche über absolutes Bodhicitta zu lehren und erinnerte uns an die Unterscheidung der im Madhyamika praktizierten analytischen Meditation (tsche gom) auf der einen Seite und der „direkten Einführung“ durch den Meister auf der anderen Seite (Dzogchen). Der berühmte Text von Mipham Jampal Dorje (1846-1912) Die Lampe, die die Dunkelheit vertreibt (vorgelegt in einer aktuellen Übersetzung von Andreas Kretschmar), in direkter Dzogchen-Linie überliefert, gibt Unterweisungen für Personen, die einem weltlichen Leben nachgehen und nur wenig Zeit für Praxis haben. Der Text untermauert die direkten Kernunterweisungen von Tsoknyi Rinpoche zur Erkennung der Natur unseres Geistes.

Rinpoche wies auf die untrennbare Verbindung von Rigpa und Bodhicitta hin: Je mehr Stabilität man im Gewahrsein erreicht, desto mehr manifestieren sich die Buddha-Qualitäten wie spontane Liebe und Mitgefühl.

Doch wir müssen nicht darauf warten, bis wir vollständiges Gewahrsein realisiert haben und auf immer und ganz natürlich darin verweilen können, wir müssen nicht auf die Erleuchtung warten, wir können schon jetzt die Früchte unserer Übung allen Wesen widmen bzw. sie in unseren Handlungen aktivieren. Wenn wir spontan sich einstellendes Wohlsein oder spontanes Mitgefühl nicht für uns behalten, sondern widmen, d.h. mit allen anderen Wesen teilen, schaffen wir schon jetzt gute Voraussetzungen für unseren Bodhisattva-Weg. Rinpoche betonte auch den Aspekt der Selbstheilung: Indem wir Gewahrsein üben, werden zugleich unsere eigenen Trübungen (Kleshas) und vergangene Traumatisierungen gereinigt: Sie steigen in der Meditation auf und lösen sich auf.

Die Lampe, die die Dunkelheit vertreibt, ist ein Text, den wir Zeile für Zeile immer wieder lesen können und sollen. Diese Unterweisung, erklärte Rinpoche, besitzt die Segenskraft der ganzen Dzogchen-Linie. Das Verständnis für den Text kommt von der Praxis, umgekehrt löst der Text immer neues Erkennen in der Praxis aus.

Wie glücklich, dass wir diesen Unterweisungen, den Bodhicitta-Lehren und einem Meister von Klarheit und Humor wie Tsoknyi Rinpoche begegnet sind!

Bericht: ewi